Achtung, Streicher von links! Von rechts rollen die Klangwellen der Harfe
heran. Die Oboe sitzt uns im Nacken. Das Publikum ist umzingelt von Instrumenten.
Aber was heißt hier Publikum? Alle machen mit. Tan Duns «Circle»
durchbricht die traditionelle Schallmauer zwischen Musikern und Zuhörern.
Der Dirigent fungiert als Zeremonienmeister. Wenn er es verlangt, haucht,
plappert, zwitschert oder schreit der ganze Saal. Die Erlebnis-Komposition
ist nur eins von vielen Ereignissen, welche die «Lange Nacht der chinesischen
Musik» im Konzertsaal Bundesallee zum Erlebnis machten.
Erst seit ein paar Jahren nimmt man in Europa die neue chinesische Komponistengeneration
wahr. Das Festival MaerzMusik wartet mit zahlreichen (noch) unbekannten Namen
auf. Das Nieuw Ensemble Amsterdam präsentierte in Berlin einen spannenden
Querschnitt aus seinem chinesischen Repertoire.
Es gibt einen gemeinsamen Nenner für alle Musikstücke des langen
Abends: den Brückenschlag zwischen chinesischen Traditionen und westlicher
Avantgarde. Aber was heißt eigentlich «westliche Avantgarde»?
Die Einflüsse, die die chinesischen Komponisten verarbeiten, sind ausgesprochen
unterschiedlich. Das Ensemble präsentiert mit Tan Dun und Qu Xiasong
zwei Komponisten amerikanischer Prägung, die auf Experimentierlust und
exaltierte Klangereignisse setzen.
Ganz anders klingen die Werke von Mo Wuping, Xu Shuya und Chen Qigang, die
in Paris studiert oder gelebt haben. Alle drei weben faszinierende seidene
Klangteppiche mit schillernden Flächen voller Glissandi und Tonumspielungen.
Die Klänge der «französischen» Chinesen wirken wie lebendige
Organismen, die ständig in schlingernder Bewegung sind, ohne je festen
Boden unter die Füße zu bekommen. Bemerkenswert die Stimmfacetten
des Baritons Shi Kelong, der Techniken der alten Peking-Oper und der Avantgarde
vereint.
Den zweiten Teil der «Langen Nacht» gestaltet der China Found
Music Workshop auf chinesischen Instrumenten wie Bambusflöte, Mundorgel
und Pipa. Die Musiker beginnen ganz traditionell: mit Seide-und-Bambus-Musik,
wie sie in den Teehäusern Südchinas gespielt wird. Sie basiert auf
der Heterophonie, dem gleichzeitigen Spiel von verschiedenen Varianten einer
Grundmelodie.
Die junge Komponistin Shih Pei-Yu interessiert sich eher für außergewöhnliche
Rhythmen und Geräusche. Auch Tung Chao-Ming erforscht sensibel die Grenzbereiche
zwischen Klang und Geräusch. Beide präsentieren Auftragswerke der
MaerzMusik als Uraufführungen. Chinesische Skalen, meditative Atmosphäre,
Reflexionen über chinesische Gedichte oder philosophische Konzepte -
fernöstliche Elemente finden sich in allen Musikstücken, bei Pan
Hwang-Long aus Taiwan ebenso wie bei Bernhard Gal aus Wien oder Christian
Utz aus München.
Am Ende soll noch eine babylonische Sprachverwirrung stattfinden. Der Inder
Sandeep Bhagwati hat ein Stück für die beiden Ensembles des Abends
geschrieben. Jede Gruppe spielt mit eigenem Dirigenten, Kammerton und Tempo.
Das angekündigte Chaos bleibt trotzdem aus; denn Bhagwatis Komposition
setzt die Ensembles eher abwechselnd als gemeinsam ein. Ohne Übertreibung
funktionierte das Label «Lange Nacht». Wer nach fünf Konzertstunden
jenseits der Mitternacht noch immer Unternehmungslust verspürte, konnte
sich in die chinesische Clubszene im Haus der Berliner Festspiele stürzen.
Martina Helmig, Berliner Morgenpost, 11.03.2002