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Im Inneren des großen Ohrs


Das neue Berliner Festival MaerzMusik entdeckt die chinesische Avantgarde,
das "mikroskopische Musiktheater", Cage und Stockhausen.

von Volker Hagedorn

Die Nalepastraße liegt auf dem Falkplan im Quadrat X7, und so sieht es da auch aus, am Ostrand von Berlin, wo Kraftwerksschlote qualmen und tote Gleise im rissigen Asphalt versinken. Eine Tarkowskysche Zone, in der ein gewaltiger Baukomplex steht, längst abgewickelt, halb vergessen - die Produktionsstätten der DDR-Rundfunkanstalten. Drinnen riecht es noch nach Sozialismus, nach zu heißen Heizungen und ranzigen Plastepolstersesseln, außerdem nach frischem Kaffee und neuen Kabeln. Für einen Tag und eine Nacht wurde der Laden noch mal aufgemacht. Für John Cage, der vor acht Jahren starb und nun eine der Hauptfiguren im neuesten deutschen Musiktreffen ist, der MaerzMusik. Dieses Festival für aktuelle Musik ist quer über die Hauptstadt verteilt. Zum Ostrand pendeln gecharterte Busse bis drei Uhr nachts, und sie sind nicht leer.
Es kommen Digitalfreaks und Bildungsbürger, Donaueschingenveteranen und Großstadtabenteurer. Man entdeckt Cage und die DDR auf einmal, sitzt im getäfelten Saal 3 und sieht sich 4'33'' an. Zu hören gibt es ja nichts in diesem Klassiker von 1952: Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang erzeugt ein Musiker keinen Klang. Der Applaus am Ende ist nicht ironisch. Die Leute mögen Cage. Der heitere freie Geist aus Amerika passt auf leicht wahnsinnige Art ideal in diese sozialistische Radiotitanic. Zumal es ja insgesamt 43 Darbietungen sind, die allein für die zwölf Stunden Si-mul-ta-ne-ous Si-lence verknüpft wurden: Frühes von Cage sowie Stücke und Installationen lebender Kollegen jeglicher Generation, die darauf direkt oder im weitesten Sinne Bezug nehmen, wobei verschwiemelte Neo-Fluxus-Peinlichkeiten ebenso ihren Platz haben wie minimalistische Treppenhausbeschallungen oder sieben Uraufführungen nach Cages 1958er Bastelbogen Fontana Mix. Da dirigiert Dieter Schnebel, weißhaariger Katechist des offenen Kunstwerks, mit milder Miene eine kammermusikalische Hommage mit schreitenden Sängern, anschließend werden zum selben Zweck von Matthew Rogalsky drei Powerbooks vernetzt - die obligatorischen Kultwerkzeuge der um 1970 geborenen Computermusiker. Und vorher gibt es natürlich die Tonbänder zu hören, die der Zufallsmeister Cage selbst aufnahm.
Fernöstliches Pianissimo
Ist es ein Zufall, dass sein eigener Mix, Langwellengurgeln, Alltagslaute, fahles Rauschen, Überlagerungen und Stille von vor 40 Jahren auf acht Kanälen, am gegenwärtigsten, schwerelosesten, klarsten wirkte? Bei ihm, der absichtsvolles Musikmachen mit ritueller Sorgfalt vermied, erzeugen die Klänge gleich welcher Stücke immer wieder eine ganz bestimmte Art von Gedankenweite und Helligkeit, als hätten sie selbst insgeheim eine Absicht entwickelt.
Und man kommt dabei, ganz wie John Cage es beabsichtigte, zur Ruhe. Die ist auch nötig inmitten eines Festivals, das an elf Tagen mit vierzig Veranstaltungen auf sieben "Themeninseln" Dimensionen erreicht, die ans Kulturprogramm einer Weltausstellung erinnern. So etwas kann man nicht aus dem Hut zaubern. MaerzMusik ist die jährliche Nachfolgerin der keineswegs erfolglosen Biennale für zeitgenössische Musik und bekommt vom Bund 650 000 Euro.
Sie will die Veränderungen der Musikszene spiegeln, das Aufbrechen des eurozentrischen Avantgardebegriffs. Die Biennale hatte sich aufs Komponieren im Osten und Westen Deutschlands konzentriert, jetzt wird man global. "Wir wollen polyzentrisch, nicht hierarchisch denken", meint Matthias Osterwold, der künstlerische Leiter, "gegen die natürliche Tendenz, Scheuklappen auszubilden." Das reicht von der "biosensorischen Vernetzung" bis zum klassischen Rihm-Konzert, von China bis Lou Reed.
Der wird am Sonntag höchstpersönlich Klangregie führen, wenn sein berüchtigtes Album Metal Machine Music, eine Rückkopplungsorgie der siebziger Jahre, erstmals als konzertantes Instrumentalwerk zu hören ist. Ein anderer Pionier elektrisch generierter Klänge saß schon am vergangenen Wochenende im Parkett des Festspielhauses und überprüfte, ob alles seine Ordnung hatte. Denn Karlheinz Stockhausen nimmt, anders als John Cage, seine Interpreten in strenge Zucht.
Zwar rühmte sich das Produktionsteam, der Opernakt "Michaels Jugend" aus dem Donnerstag der Licht- Heptalogie werde erstmals "unabhängig vom Komponisten" inszeniert, aber der hat in seiner Partitur nun mal viele szenische Details fixiert. Für die steife Krippenspielästhetik, die Stockhausen seinen Regisseuren bislang aufnötigte, fürchtet man ihn fast ebenso wie für seine Interviews.
Immerhin gelingt es Cornelia Heger und ihrem Ausstatter Fred Pommerehn, wenigstens die Hälfte der autobiografisch-kosmischen Heldenlegende szenisch zu entschlacken. Wie Teile einer Installation bewegen sich Michael und seine Eltern auf quadratischer Fläche zwischen komprimierten Objekten aus Hausrat und Militaria, die an Interieurs von Ed Kienholz erinnern. Zugleich singen Hubert Mayer, Ksenija Lukic und Jonathan de la Paz Zaens mit einer Präzision, die aus dem Text selbst Material werden lässt. Der gefühlsferne Duktus der Linien verrät auch etwas vom Trauma des Weltkrieges, das der Komponist hier bannen will. Die aufgeräumte Geometrie der Bühne hilft beim Hören der komplexen Struktur aus Gesang, Instrumentalsoli und Bandzuspielungen. Sie wirkt zwingend, und die sperrige Rhythmik setzt sich über den Gesang der Mutter bis zur Ornamentik der Tänzerin einmal so spannend auf allen Ebenen fort, dass so etwas wie eine Ekstase der Abstraktion entsteht. Aber leider gibt es auch eine Handlung. Der präsumptive Weltenretter Michael muss, während seine Eltern sterben, einem Sternenmädchen folgen wie weiland Siegfried dem Waldvögelein - und die tapsige Balz eines Tenors in Siebziger-Jahre-Hosen mit Schlag um eine flügelschlagende Bassetthornistin kommt den klammen Ritualen früherer Licht -Versuche peinigend nahe. Michaels anschließende "Prüfung" wird endgültig auch eine fürs Publikum, so zäh und symbolschwer geht sie vonstatten.
Wer dabei einzunicken droht, hat sich nichts vorzuwerfen, aber wer sich entspannen will, fährt besser neun U-Bahn-Stationen weiter zum Hebbel-Theater. Dort wird man von einer Platzanweiserin mit priesterlich gesenktem Ton gebeten, die Schuhe abzulegen, und tappt dann im Dämmerlicht zwischen Kiesinseln ins Innere eines großen stilisierten Ohrs. Ringsum stehen Percussionisten und rühren die zarten Klänge zurecht, die Klaus Lang für kirschblüten.ohr geschrieben hat.
Das Ohr hat Claudia Doderer erdacht, die im "mikroskopischen Musiktheater" trennen will, was die Oper gewaltsam verband, nämlich Licht und Ton. Nur wenn die Felle und Metalle der leisen Schlagzeuge schweigen, glimmen ein paar Lampen auf, und man kann nachsehen, ob die andern Gäste schon in Trance gefallen sind oder konzentriert über die ausgetüftelten Schwingungsmuster nachdenken. "Ick hatt ja nich den Bolero erwartet", meint hinterher eine ältere Besucherin, "aber'n bisschen mehr könnte schon sein ..."
Traditionell ist hier nur noch der Applaus. Der muss sein, den wird es immer geben, er hat schon die Auflösung der Diatonik, den Serialismus und die Aleatorik überstanden, und mit seiner Hilfe erkennen die Türsteherinnen auch in der Universität der Künste bei der Langen Nacht der chinesischen Musik, ob ein Stück vorbei ist. Die chinesische Avantgarde mag Klänge im Pianobereich, die durch keine Tür dringen. Es sei denn, ein Komponist wie Tan Dun verlangt vom Publikum, dass es auf einen Wink des Dirigenten hin in kollektives Geschrei ausbricht. Das funktionierte zum Festivalauftakt eindrucksvoll und war noch nicht mal peinlich. Tan Duns Circle ist so offen (wenn auch keineswegs beliebig) angelegt, dass selbst ein verirrtes Handyklingeln darin seinen Platz findet.
Die Nacht der Chinesischen Musik bot übrigens auch ein Stück, in dem ein Handy vorgesehen ist, und zwar in Kombination mit traditionellen chinesischen Instrumenten. Das fiel aber weit verkrampfter aus als die Musik, die das Nieuw Ensemble unter Ed Spanjaard auf klassisch europäischen Klangerzeugern spielte. Diesen Musikern sind viele neue Stücke von chinesischen Komponisten zu verdanken. In Amsterdam sammelten sich Komponisten, die erst nach Maos Kulturrevolution die westliche Avantgarde entdecken konnten. Diesen Schock verarbeiteten sie auf eine Weise, die oft farbiger und origineller wirkt als die Musik der Vorbilder. Bei Mo Wuping und Chen Qigang fällt außerdem das wunderbare Timing auf. So, wie die Instrumente atmen und aus den Zerrklängen der gealterten Westavantgarde leuchtende Farben gewinnen, so atmen auch die Strukturen. Und zur Kunst, im richtigen Augenblick Schluss zu machen, lässt sich viel von den Chinesen lernen.
In der Knappheit der Formulierung bleiben die Berliner Taxifahrer allerdings unübertroffen. Als einer von ihnen erfuhr, sein Fahrgast habe an zwei Tagen elf Stunden lang neuer Musik gelauscht, fragte er bloß: "Soll ick Sie dann nicht lieber gleich ins Krankenhaus bringen?"

"MaerzMusik" bis zum 17. März, Infos unter 030/25 48 90 und www.maerzmusik.de
Die Zeit, Feuilleton 15.03.2002


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